20120302

Der Zuschauer

Christian Ruby
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L’archipel des spectateurs, (XVIII°-XXI° siècles), Editions Nessy, Besançon, 2012. 
Cf. www.editionsnessy.fr


In meinem neuen Buch versuche ich die Frage zu beantworten, was unter « Zuschauer » (oder Zuhörer oder Leser) zu verstehen ist. Zuschauer (Filme, Musik, Literatur, Performance, bildende Kunst, Theater) zu sein bedeutet, eine aktive Haltung einzunehmen, da auch das Sehen, das Lesen, das Zuhören, eine Haltung ist. Kein Text kann auf seinen Leser in einer Schublade warten. Ein Buch ist kein Buch ohne Leser. Es gibt keine Aufführung, keinen Film ohne Zuschauer. Alle Werke, im Projekt der Modernen (ich habe keinen Überblick über die gesamte Geschichte), sind was Siegfried J. Schmidt (1) allgemein eine Eigenschaft von Kunstwerken nennt : « Wahrnehmungsangebote », in der Absicht einer Sinnproduktion. Kunstwerke entstehen mit dem Rezipienten. Von ihm hängt es ab, ob der Sinn zwischen Werk und Zuschauer oder Leser gelingt. Der Zuschauer muss das Angebot annehmen. Das Gesehene muss für ihn bedeutungsvoll sein. Werke und Zuschauer, Leser, Zuhörer, u.s.w., sind zwar konstitutiv getrennt. Der Zuschauer ist dabei der letzte Adressat aller Aktionen.
Der Zuschauer ist immer aktiv an der Aufführung beteiligt. Der Leser ist aktiv an der Lesen beteiligt. Er bestimmt die Werke darüber hinaus durch seine Reaktionen mit. Er beeinflusst die Aufführung oder das Lesen. Oft erinnert er sich an manche Bilder. Und das Bilan kann für jeden einzelnen Zuschauer sehr unterschiedlich sein und basiert auf individuellen Erfahrungen.
Die Rolle des Zuschauers fordert die Bereitschaft zur Warnehmung. Das Sehen, das Lesen impliziert, dass eine Einordnung dessen, was sichtbar und sagbar ist, stattfindet. Einige Konventionen regieren die Verhalten. Der Raum, in dem er agiert, kann durch Kulturlandschaft, Humor, Volksstimme,… und nicht nur durch inkorporiertes kulturelles Kapital bestimmt werden .
Die moderne-klassische Kunst (seit dem 18. Jahrhundert) hat eine « Kunst des Zuschauers » konzipiert, in einem abgegrenzten Raum mit einer beschränkten Zahl an Zuschauern. Im Mittelpunkt meines Buchs steht dabei gar nicht die Frage nach einer richtigen oder falschen Kunst. Erstens stellt sich hier die Frage, wie klassische künstlerische Prozesse (die sich dann in politischen und philosophischen Entscheidungen, kulturellen Praktiken, aufgestellten Regeln,... ausdrücken) entstehen, und zweitens wie man sich selbst, als Zuschauer, zu ihnen ins Verhältnis setzt, wie man an diesen Prozessen teilnehmen möchte. In diesen Prozessen gibt es also verschiedene Arten an seinem Platz zu sein.   
Diese klassische Art des Zuschauens ist tot. Eigentlich funktioniert es nicht mehr. Ihre Tage in der Gesellschaft scheinen gezählt. Wir haben uns heute von diesem Muster getrennt. Die « Kunst des Zuschauens » ist ein konservatives Konzept geworden. Entscheidend ist, aber, dass das intellektuelle Publikum hier eine reaktive Rolle spielt. Zweifellos hat es viele Vorurteile über die neuen Figuren der Zuschauer konzipiert. Es geht um das Publikum, das jetzt in gewaltiger Schar existiert. Zuschauer der Tagesschau, Zuschauer des Sports, Zuschauer des Medien (multimedial). Man wird heute als Individuum statt als Masse empfunden. Man ist aktiver User statt Folgevieh (und nicht nur per SMS). Der Zuschauer entscheidet, wann und was er sehen will.
Das ist nicht zu kurz gedacht. Ich gehe auf die Suche nach einem tieferen Sinn für all das. Denn einig sind sich die meisten Theortiker darin, die aktuelle Zuschauerrolle negativ zu bewerten. Sie befürchten, dass die Medien nur das anbieten, was der Zuschauer will. Für sie ist Mediengefahr immer ein Risiko. Die Tagesschau wird als einzige Informationsquelle benuzt. Sie zweifeln nicht an einer Medienbedrohung. Der Aufbruch der Medien im Weltraum (in der Welt) fordert den Menschen heraus. Medien sind nur eine mächtige Kontrollinstanz. Und die Intellektuellen möchten die Bedrohung der Mediokratie unterstreichen. Sie wollen sich auch ihre Dominanz über die Menschen nicht nehmen lassen.
Mein Buch ist eine Antwort auf die von den Konservativer als schlecht verstandenen Zuschauer. Ich hoffe, das Buch kann dazu beitragen, diese Denkschablonen abzulegen (loszuwerden). Außerdem wage ich es zu behaupten, dass mein Interesse danach strebt zu erklären, was in den neuen Spielregeln zu verstehen ist, wie wir die neuen Werke, die die Künstler uns anbieten verstehen und erleben können.
Die zeitgenössische Kunst hat nicht nur andere Materialien, eine andere Aktivität und eine andere Haltung der Welt gegenüber. Sie hat darüber hinaus einen anderen Zuschauer und eine andere Aufgabe für den Zuschauer geschaffen. Zum Beispiel, Peter Handke’s Publikumsbeschimpfung (1966, Frankfurter Theater). Dieses Stück brachte schon Handke (23 Jahre alt) zum ersten Mal Erfolg. Es ist kein Theater im herkömmlichen Sinne, sondern eher eine Art Dialog zwischen Schauspielern und Publikum.
Die zeitgenössische Kunst und das Straßentheater, - die eine Geschichte der neuen Sensibilität darstellen -, eben jene Spielform, die direkt in die Realität übergehen will (Kneipen, Jugendheime, Gewerkschaftsräume) haben offensichtlich eine andere Zielsetzung als moderne Kunst (18° und Avant-Garde) : ins Gespräch mit den Zuschauern zu kommen.
Sie haben aber auch die Aufgabe, das Publikum zunächst anzulocken. Sie wollen die Zuschauer in die bestehende Problematik einführen und ihnen schließlich eine klare Zielperspektive anbieten. Ihre Mittel : das Publikum soll angesprochen und provoziert werden. Und das ist sehr problematisch.
Jedoch arbeite ich nicht nur über zeitgenössische Künstler, weil thematisiert sind derzeit in ihm die weitgehend schweigende Rezeption der Zuschauer und der Applaus am Ende. Ich arbeite über die Zuschauer und darüber was ich von ihnen begreifen kann. In der kulturellen Sphäre thematisiere ich den Begriff einer Kernkultur die den aktuellen kulturellen Stil bestimmt (eine Kultur im Wandel). Die Kernkultur beschreibt, welche Teilmenge an kollektiven Produktion und Kooperation beliebig sind. Und eine Möglichkeit für Interkulturelle Kommunikation (gerade in Zeiten der Globalisierung wird das Ansammeln von kulturellem Kapital, und damit die Etablierung einer eigenen kulturellen Identität über transnationale Grenzen hinweg, wichtig), und für Konflikte, die eine spezifische Form von sozialen Beziehungen (zwischen Individuen, Gruppen und Staaten) sind.
Das bedeutet, dass die Konflikthematik eines der Themen ist, in denen eine kulturelle Perspektive in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird.




(1) Siegfried J. Schmidt : Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist, 2000, 307.